Interview Levana-Schule Eisleben

Silvia Nagel bei der Arbeit mit Schülern im allerersten Projekt an der Schule im Jahr 1996
Foto: Schulchronik der Levana-Schule Eisleben

Gesprächspartnerinnen:

Elvira Gorisch [EG]
Schulleiterin der Levana-Schule von 1992 bis 2014

Grit Bär [GB]
Diplomlehrerin für Deutsch/Kunst, Sonderschullehrerin für GB und LB

Levana-Schule Eisleben Förderschule für Geistigbehinderte
www.levanaschule-eisleben.de

Projekte: 39
Künstler*innen: 11
Stunden: 721
Teilnahmejahre: 16 (1996, 1998, 2001, 2003 – 2015)

Interviewtermin: 02.11.2017

Vorbemerkung: Beiden Gesprächspartnerinnen lag der komplette Fragenkatalog vorab vor. Zu Beginn des Interviews wurde allerdings gemeinsam entschieden, die Erfahrungen vorrangig in freier Rede zu sammeln und einzelne Fragen lediglich als Einstiege in das jeweilige Themenfeld zu nutzen.

Wie entstand das Interesse an einer Zusammenarbeit mit externen Künstler*innen?

EG: Das Interesse an der Zusammenarbeit wurde bei mir als Schulleiterin durch eine Bekanntmachung des Kultusministeriums des Landes Sachsen-Anhalt ausgelöst. Nur ein relativ kurzer Antrag zum Projekt „Bildende Künstlerinnen und Künstler in Schulen“ war notwendig, der nicht viel Schreibarbeit erforderte. Das war der Anfang.

GB: Ich denke, das ist das Eine. Das Entscheidendere ist jedoch, ob man generell Lust und Interesse verspürt, mit Externen zu arbeiten. Das Programm hat uns und mir von Beginn an die Möglichkeit geboten, Leute von außen kennenzulernen und Schüler in Kontakt mit Künstlern zu bringen. Das war für mich wie eine ungenehmigte, nicht abrechenbare Fortbildung und gehörte somit zum Besten, was mir nach meinem Studium in Leipzig passieren konnte. Mit der Gründung unserer Schulform war die Orientierung nach außen eines unserer wichtigsten Anliegen. Heute spricht man in diesem Zusammenhang landläufig von kultureller Bildung. Ich denke, dass „kulturelle Bildung“ bereits seit 1991 [dem Gründungsjahr der Schule] fester Bestandteil unseres Schulalltags ist.

EG: Oft ist Außenstehenden, aber auch Lehrkräften anderer Schulformen nicht bewusst, dass Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eine allgemeinbildende Schule besuchen – wie alle anderen Schüler auch! Unter dem Aspekt der Allgemeinbildung war und ist das Öffnen der Schule nach außen unser Ansatz, unseren Schülern über die Schule und den Unterricht hinaus weiterführende Möglichkeiten ihrer Persönlichkeitsentwicklung in ethischer und ästhetischer Hinsicht zu bieten. Als ich mit dem Erlass zu Frau Bär, unserer Fachlehrerin für Kunst, gegangen bin und ihr die Frage gestellt habe „Wäre das nicht was für uns?“, war sie sofort offen. Damit sind wir eingestiegen.

GB: Die Projekte ermöglichen unseren Schülern und mir als Pädagogin, Kunst und Kultur immer wieder konkret zu erleben und selbst aktiv zu gestalten. Zu den Schülern, die 1996 als erste in den Genuss des Programms kamen, gehörten auch Schüler mit schwersten Behinderungen, es waren Thoralf und Conny. Silvia Nagel [als Künstlerin] hatte hier keine Berührungsängste. Ich erinnere mich sehr genau, wie Thoralf still und aufmerksam das Geschehen in der Schmiede wahrnahm. Er verfolgte aktiv den Prozess, wie in Metall getrieben wurde. Derartige Erfahrungen haben sich mit den Jahren immer weiter vertieft. Gerade in unserem Bereich sollte das Beste nicht gut genug sein. Wie schon gesagt ist es wirklich ein gewisser Luxus, der zugleich auf einem Geben und Nehmen beider Seiten beruht … der Ideenfindung, welche sich am Machbaren orientiert … der Materialienerfahrung , der Bedeutung der Bildsprache als Kommunikationsmittel jedes Einzelnen […] bis dahin, dass ich immer wieder durch die Künstler die Möglichkeit erhalte, Techniken, die ich u.a. im Studium kennengelernt habe, für ein paar Tage intensiv und praktisch einzubinden und darüber hinaus im Unterrichtsalltag deren Bedeutung neu zu entdecken. Claudia Berg, Christiane Budig, Renée Reichenbach, Claudia Baugut und einst Martin Schmidt setzen in ihrer Arbeit mit den Schülern bei den Stärken jedes Einzelnen an und fördern damit nicht nur vorhandene Schlüsselkompetenzen, sondern ermöglichen ihnen eine ganz individuelle Entfaltung. Sie widmen sich bewusst der kulturellen Bildung der Schüler und eröffnen ihnen damit Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe.

Welchen Einfluss hatten bzw. haben die Bedingungen des Projektes „Künstlerinnen und Künstler an Schulen in Sachsen-Anhalt“ auf Ihre Entscheidung, sich um eine Teilnahme zu bewerben?

EG: Mir als Schulleiterin gefielen besonders die Bedingungen des Projektes, die in einem ungewohnt kurzen Erlass bzw. in einer Bekanntmachung des Ministeriums veröffentlicht wurden. Diese Bekanntmachung erlaubte Organisationsmöglichkeiten, welche uns sehr zugute kamen: unterschiedliche Projektformen, entweder Projekttage, einzelne Stunden, Projektwochen, … es war alles möglich. Es war ein sehr kurzer Antrag zu stellen, auch ungewöhnlich, nur eine Seite, die sehr schnell ausgefüllt war. Wir haben zudem selten oder eigentlich nie erlebt, dass ein Antrag abgelehnt wurde … auch sehr ungewöhnlich. Das hat uns natürlich immer wieder bewogen, die sehr erfolgreiche Zusammenarbeit mit Künstlern in jedem oder nahezu jedem Schuljahr fortzusetzen.

In welchen Belangen haben sie von der Zusammenarbeit mit externen Künstler*innen für Ihre eigene pädagogische Arbeit profitiert?

GB: Die Begegnungen mit Künstlern aus unterschiedlichen Bereichen innerhalb der Projekte gehen zwangsläufig immer wieder mit Offenheit für Neues und Fremdes einher. Mich interessiert hierbei verstärkt die Vorbereitungsphase, welche die gemeinsame Ideenfindung mit einschließt. Ich finde es bereichernd, dass sich über die Jahre und über die Projekte hinaus freundschaftliche Beziehungen entwickelt haben und sich dadurch Projektinhalte durchaus auch sehr kurzfristig ändern können. Das zahlt sich für alle Akteure bis hin zu den Eltern aus, die unsere Arbeit durch Anteilnahme unterstützen. Der Ideenpool der Künstler selbst scheint unerschöpflich. Von großer Bedeutung ist schließlich auch der Umstand, dass es im Anschluss an jedes Projekt eine Nachbereitung gibt. Dazu gehört als Erstes der Abschlussbericht, den die Künstler verfassen. Dabei allein bleibt es jedoch nicht, sondern wir sitzen zusammen und werten das Projekt aus. Ich empfinde das als äußerst gewinnbringend für meine Arbeit. Im vorgegebenen bzw. genehmigten Zeitraum eines Projektes wird den Künstlern von der Schulleitungsebene seit Anbeginn eine Vor- und Nachbereitungszeit eingeräumt – sonst hätte ich mich auf das Projekt auch nicht eingelassen, denn insbesondere der Nachbereitungsaufwand ist zeitintensiv. Letzen Endes stehen mir die Dokumentationen aller Projekte persönlich zur Verfügung und ich kann mit ihnen arbeiten.

Wie hat die Zusammenarbeit mit externen Künstler*innen Ihren Schulalltag beeinflusst und verändert?

EG: Neben dem Lerngewinn unserer Schüler hat sich vor allem unser Schulgebäude verändert. So haben mehrere Projekte zur Flurgestaltung stattgefunden, viele Zeichnungen und Bilder schmücken die Wände. Selbstportraits sind entstanden, die eine ganze Wand füllen – von allen Schülern, die zu dem Zeitpunkt an der Schule waren. Also: Man sieht unserem gesamten Schulgebäude die Ergebnisse der Projekte an.

GB: In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass wir dank des Programms „Künstler an Schulen“ auch den Mut gefasst haben, Anträge bei weiteren Förderern, z. B. bei Aktion Mensch und dem Landkreis zu stellen. Ob es die Homepage, das Wandbild oder der Kalender sind, der KLARO-Blog, den Frau K. Sommer seit 2012 mit Schülern einmal wöchentlich im Nachmittagsangebot pflegt […] All diese Vorhaben konnten mit Fördermitteln von Aktion Mensch angestoßen und realisiert werden. Während der Projektarbeit und in den Gesprächen mit allen Akteuren – unsere Schüler möchte ich hierbei ganz klar herausstellen – entwickeln sich zwangsläufig neue Ideen. Uns war klar: Neben den Projekten über „Künstler an Schulen“ hinaus muss es noch andere Möglichkeiten geben, über die mehr Schüler in Vorhaben eingebunden werden und über die wir noch ganz andere Vorhaben realisieren können. Genauso ist es dann auch passiert. Ich denke hier z. B. an das Musikfestival im Kloster Helfta. Christiane Budig gestaltete gemeinsam mit den Schülern die Plakate, Flyer und Einladungen für die Veranstaltung.

EG: Beeindruckend war auch die Vielfalt der Künstler, die über die Jahre an unsere Schule kamen – mit verschiedensten künstlerischen Techniken, so dass unsere Schüler auch mit der Vielfalt von Kunst konfrontiert wurden. Also nicht nur Malen und Zeichnen oder plastisches Gestalten, sondern auch Glasgestaltung oder die Anfertigung von Spielkarten, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Vielfalt ist unseren Schülern zugutegekommen. Unsere Schüler hatten mit den verschiedensten Künstlern und Techniken Kontakt, die andere Schüler an anderen Schulen so vielleicht nicht erleben konnten.

GB: Ich denke, nichts ist für Schüler spannender, als Personen, die nicht unmittelbar etwas mit Schule zu tun haben, kennenlernen zu dürfen. Wenn ich da an die Glasprojekte mit Christiane Budig in Halle denke – verlagerter Unterricht, mehrere von Schulleitungsebene genehmigte Projektfahrten. […] Wenn wir von kultureller Bildung sprechen, sie uns zum Ziel machen, dann ist es meines Erachtens wichtig, dass Schülern die Möglichkeit gegeben werden sollte, diese auch außerhalb der Schule zu erfahren. Claudia Berg, Christiane Budig und das Künstlerhaus 188 machten das möglich. Die Radierungen zum Kalender entstanden im Hallenser Zoo sowie in Atelier von Claudia Berg. Christiane Budig öffnete für unsere Schüler ihre Werkstatt zum Arbeiten. [Unsere pädagogischen Mitarbeiterinnen] Silvia Karpe und Doris Wege erkundeten mit den Schülern die Stadt Halle. Im Volkspark entstanden Gruppenfotos unter Anleitung von Thomas Kümmel. […] Darüber hinaus ist es auch immer wieder das ins Gespräch kommen mit Künstlern und deren Bekannten aus Halle. Gerade wenn ich hier an Eva [Natus-Šalamoun] denke. Wie viel Anteil Eva an unserer Arbeit genommen hat, halt in ihrer großzügigen und fordernden Art, wie sie erzieherisch auf Schüler und uns Pädagogen eingewirkt hat. Immer wieder stelle ich fest, mit welch großer Aufregung, Freude und Neugierde sich Schülerinnen und Schüler auf die Projekte einlassen. Es geht um den Prozess, um die Auseinandersetzung mit einem Thema, um das Kennenlernen, um das Freude entwickeln an einem Ergebnis – und auch zu erfahren, dass Misserfolge dazugehören und nicht alles „Kunst“ ist, was da gelegentlich viel zu schnell entsteht, weil sich alle Beteiligten eigentlich mehr Zeit wünschten. Vielfach verlagern wir die Projekte ganz bewusst in den Freizeitbereich. Die Schulwoche verlängert sich so um einen Schultag. Hier bin ich natürlich auf die Hilfe meiner Teampartnerinnen – in diesem Schuljahr Silva [Karpe] – sowie der technischen Kräfte unserer Schule angewiesen; ein Projekt von Freitag zu Samstag wäre ansonsten nicht möglich.

Inwieweit führt Sie die Projektarbeit mit externen Künstler*innen / mit Schule(n) an Ihre Grenzen?

EG: Durch die Projekte lernt man auch als Lehrkraft an der Schule viele interessante Menschen kennen, mit denen wir ansonsten so nicht zusammengekommen wären, zumindest nicht in diesem intensiven Kontakt. Oft haben sich während der Projekte Gespräche mit den Pädagogen ergeben, die die Schüler beim Arbeiten begleitet haben, die auch für sich persönlich davon jedes Mal profitiert haben: Viel Neues, andere Sichtweisen, die die Schüler anders kennengelernt haben, in anderen Situationen als im Unterricht.

Ein wichtiger Aspekt war und ist die Öffentlichkeitsarbeit. Die Projekte, die durchgeführt wurden, wurden publiziert über die Presse, in der Regel über die Mitteldeutsche Zeitung, aber auch andere. Durch diese Veröffentlichungen haben unsere Schüler sehr an Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen gewonnen. Sie haben nun mal als Förderschüler im Bereich geistige Entwicklung in vielen Bereichen Lerndefizite. Die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen sind nicht ihre Stärke, aber es gibt Bereiche, auf denen sie wirklich gute und sehr gute Leistungen vollbringen können. Gerade das ist durch die Zusammenarbeit mit den Künstlern bekannt geworden, anderen Menschen bewusst geworden, die dann auf unsere Schüler zugekommen sind mit den Worten „Mensch, was ihr da gemacht habt, ist ja wirklich toll“ Dass sie gelobt wurden, hat die Schüler sehr gestärkt.

GB: Ich gehe davon aus, dass jedes Kind ein Anrecht auf kulturelle Bildung hat. Inwieweit und in welchem Umfang wir Schülern kulturelle Bildung ermöglichen, das liegt im Ermessen eines jeden Einzelnen. Für mich persönlich war und ist es eine Bereicherung, Künstler wie Claudia Berg und Renée Reichenbach an unserer Schule begrüßen zu dürfen. Claudia Berg leitet seit über zehn Jahre Projekte an unsere Schule. Ich denke, ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es ihr Spaß macht, während eines ziemlich kurzen Zeitraums sehr intensiv mit Schülern zu arbeiten und auch weil ihr Raum gegeben wird, in dem sie ohne Vorgaben agieren kann. Die Chance, mit nur wenigen Schülern zu arbeiten, besteht gerade in unserer Schulform. Allerdings braucht es dafür das Vertrauen der Schulleitung und den Verzicht auf Vorgaben von oben, dass z. B. zwingend mindestens zehn oder fünfzehn Schüler an einem Projekt teilnehmen müssen. Unter derartigen Konstellationen hätte ich die Projektarbeit ansonsten auch aufgegeben. Mir als Pädagogin ist das geringe Honorar, welches die Künstler für ihre geleistete Arbeit – Projektvorbereitung, Anfahrt, Umsetzung, Abschlussbericht – erhalten, mehr als bewusst. Wenn man dann noch hinzurechnet, dass z. B. Renée [Reichenbach] spezielle Porzellanmassen für die Projekte vorbereitet und diese den Schülern zur Verfügung stellt, ihnen dadurch ermöglicht, mit wertvollen Materialien zu arbeiten, ist all das keineswegs selbstverständlich. An unserer Schule ist in Bezug auf Projektarbeit immer viel möglich gewesen. Darum hat es wahrscheinlich auch so viele Projekte gegeben. Entscheidend ist letztlich auch das Vertrauen der Schulleitung – durch Frau Gorisch und jetzt durch Frau Zöllner, dass ich mich nicht erklären muss, warum wir uns für ein spezielles Thema entscheiden und warum z. B. nur sechs bis acht Schüler an einem Projekt teilnehmen.

EG: Ich finde auch den persönlichen Einsatz, sowohl der Künstlerinnen und Künstler als auch der Pädagogen an der Schule, erwähnenswert, weil nur durch diesen Mehraufwand an Arbeit und Zeit die Projekte zustande kommen. Bei uns hat bis dato kein Projekt stattgefunden ohne Grit Bär. Sie war immer mit dabei. Die Vorbereitung und die ganzen inhaltlichen Absprachen gehören ja ebenfalls dazu. Das hat sie immer auf dem Tisch gehabt. Es haben auch viele Projekte außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit stattgefunden. Also: Ein Projekt mit einem Takt von sechsmal 1 ½ Stunden bringt bei Schülern mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wenig, weil sie eine Stunde brauchen, bis sie im Thema drin sind, und dann können sie vielleicht noch zwanzig Minuten effektiv arbeiten. Uns war es wichtig, eine längere Zeit an Themen zu arbeiten und so kamen dann auch Wochenenden zustande, wo die Freizeit wirklich einfloss … teilweise mit Übernachtung, dass also die Schule am Freitag verlängert wurde, nachmittags nach dem Unterricht das Projekt stattfand, gemeinsam in der Schule übernachtet wurde und am Sonnabend weitergearbeitet wurde – teilweise bis in den späten Abend hinein.

GB: Es geht vorrangig auch um das soziale Miteinander.

EG: Das hat den Schülern viel gebracht, sie sind an den Aufgaben gewachsen. Die Eltern waren in der Regel auch immer fasziniert von den Projekten. Wir haben also kaum ein „Nein“ oder „Da darf mein Kind nicht mitmachen“ auf unsere Vorschläge zur Projektteilnahme erhalten, sondern die Eltern waren froh, wenn ihre Kinder diese Angebote nutzen konnten und haben zum Teil auch die Projekte unterstützt.